Seit der Proklamation der Dekade des Gehirns zu Beginn der 1990er Jahren haben die Neurowissenschaften einen Siegeszug ohnegleichen durchlaufen. Weit über die Grenzen der Naturwissenschaften hinaus durchdringen Erklärungsmodelle aus der Hirnforschung frühere Hoheitsgebiete der Geistes- und Sozialwissenschaften. Es gibt kaum mehr eine Wissenschaftsdisziplin, die sich nicht mit dem Vorsatz "Neuro-" modernisieren und mit der Aura vermeintlicher experimenteller Belegbarkeit veredeln ließe. Die Flut von „Neuro-X-Disziplinen" wie Neuroökonomie, Neuromarketing, Neuropsychoanalyse, Neuroästhetik oder Neurosoziologie suggeriert: Hier wird ein streng wissenschaftlicher Weg beschritten, um das „Wunder Mensch" zu erklären. Auch wenn die „Neuen Wissenschaften des Gehirns“ in der Öffentlichkeit gerne den selbstsicheren Auftritt pflegen - die Diskrepanz zwischen proklamierter lebensweltlicher Relevanz und der Belastbarkeit der empirischen Daten ist beträchtlich. Der Neuromythologie-Vortrag beschäftigt sich mit den historischen Ursachen und den gesellschaftlichen Auswirkungen des neuroscientific turns, eine grundlegende Kritik am Welterklärungsanspruch der Neurowissenschaften.